Lunapark
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2016
- 2
- Kiepenheuer & Witsch, 2016, Titel: 'Lunapark', Originalausgabe
Dem moralischen Untergang entgegen
Berlin, Ende Mai 1934. Die Nationalsozialisten sind an der Macht, doch die Unzufriedenheit wächst. Die SA gewinnt an Einfluß und agiert am Rande der Legalität. Da wird ein Toter unter einer Brücke gefunden, an den Wänden Schmierereien. Gereon Rath von der Kriminalpolizei wird ebenso gerufen wie Reinhold Gräf, sein ehemalig untergebene Kommissar, nun aber für die Geheime Polizei der SA tätig, wobei noch zur Anstellung, aber von der Hierarchie eigentlich über Rath. Früher waren sei fast befreundet, heute können sie sich nicht mehr ausstehen, sind aber durch den Fall zur Zusammenarbeit gezwungen. Während Gräf den Mord sofort auf die Kommunisten schiebt, glaubt Gereon Rath nicht an diese These, sondern ermittelt in alle Richtungen.
Während Gereon den verzwickten Fall lösen und sowohl mit als auch gegen Gräf ermittelt, ist es zuhause auch nicht ruhiger. Seine Frau Charly wird von einer Freundin gebeten, den Bruder einer Freundin ausfindig zu machen. Damit begibt sich Charly auf gefährliches Terrain, zumal sie Gereon nichts davon erzählt, da er ihre Freundin nicht mag. Zu all dem wird ihr neuer Adoptivsohn Fritze Mitglied in der Hitlerjugend und läuft zu Hause in Uniform herum und gerät immer mehr in die Fänge der Nationalsozialisten. Dennoch scheint er der einzige mit einem geregelten Leben zu sein.
Gereon gerät durch seine Recherchen immer mehr in die Fänge der Unterwelt und vermutet einige Verdächtige bald im stillgelegten Vergnügungspark Lunapark. Doch Alleingänge sind immer gefährlich, zumal wenn sie nicht von oben genehmigt sind. Auch Charly gerät bei ihren geheimen Nachforschungen immer mehr in Richtung Unterwelt und bekommt sogar Kontakt zum Unterweltboss Marlow, der schon mit Gereon zusammengearbeitet hat. Während sich die berufliche und private Situation der Raths in Berlin weiter zuspitzt, wird es in Berlin politisch immer brenzliger.
Spannender neuer Fall
Wer sich bislang mit der Gereon Rath-Reihe von Volker Kutscher beschäftigt hat, durfte miterleben, wie aus dem Berlin Ende der Zwanziger Jahre ganz allmählich eine Stadt wurde, in der sich die Nationalsozialisten breitmachen. Erst allmählich, dann immer mehr, und nun, in Band 6 und im Jahr 1934, zeigt die neue Regierung allmählich ihr wahres Gesicht. Die politischen Hintergründe bilden die Basis für die Reihe, und in Gereon Rath neuem Fall bleibt er seiner Linie treu und ist ein verlässlicher Ermittler, wenn auch nicht für seine Kollegen, weil er einfach kein Teamplayer ist und viel für sich allein ermittelt. Dass er der Geheimen Polizei der SA unter seinem ehemaligen Kollegen Reinhold Gräf Rede und Antwort stehen muss und mit ihnen zusammenarbeiten muss, ist mit das Schlimmste, was Gereon passieren kann, und wie schon seine eigenen Kollegen, behandelt er auch die anderen: Nicht mehr als nötig, möglichst nicht, und nicht immer gleich alle neuen Erkenntnisse verraten.
Der Fall selbst entwickelt sich spannend. Man durchleuchtet das Leben des Toten und findet zudem heraus, dass er nicht an seinen Misshandlungen starb, sondern an einem Glasauge in seiner Luftröhre erstickt ist. Das ist natürlich seltsam und Rath macht sich auf, Berlin nach Herstellern von Glasaugen abzusuchen, die ihn auch letztlich auf eine Spur führen. Derweil versteift sich Gräf auf die Suche nach Kommunisten, das ist seine Aufgabe und wird auch entsprechend verfolgt, wobei Gereon natürlich Zweifel an der Generalschuld von Kommunisten hat.
Großartige Atmosphäre
Volker Kutscher schafft es wie kein zweiter, die damalige Atmosphäre einzufangen, die den Leser von der ersten Seite an an die Lektüre fesselt. Man trifft seine gewohnten und liebgewonnenen Protagonisten wieder, die sich aber immer im Wandel befinden, wenngleich manche Gewohnheiten die gleichen bleiben. Das einzig stete ist der Wandel, wie man so schön sagt, und das ist auch der rote Faden der Reihe. Das ist spannend, fesselnd und wird durch Kutscher geschickt konstruierten Fall eine lohnenswerte Geschichtsstunde, die in Berlins abgelegendste und verruchteste Ecken führt. Zugleich merkt man aber auch, wie erschreckend aktuell die Geschichte ist.
Geschickt wird auch Fritze eingebunden, der Junge, den die beiden Raths am Ende der vorherigen Bandes Märzgefallene bei sich aufgenommen haben. Inzwischen offiziell adoptiert, sind sie nun Eltern eines Zwölfjährigen, der der einzige in seiner Schulklasse ist, der nicht in der Hitlerjugend ist, und schließlich gibt ausgerechnet Gereon nach und lässt ihn dort mitmachen, während Charly darüber entsetzt ist. Fritze scheint die HJ allerdings gut zu tun, er findet Freunde, kümmert sich um den Hund Kirie, schafft auf einmal zu Hause Ordnung und nimmt eigentlich die Position in der Familie ein, die eigentlich die Eltern einnehmen sollten. Hier ist alles anders herum: Die Eltern treiben sich (wenn auch berufsbedingt) in den verruchten Milieus herum, während der Sohn, der in der eigentlich organisierten Verbrecherorganisation sichtbar mitmacht, ein geregeltes, glückliches und sortiertes Leben hat. Aber so war es wohl damals, so versteht man, warum aus Deutschland später das wurde, was daraus wurde. Die Moral und die Ethik wurde umgedreht und man hat es nicht oder erst zu spät gemerkt. Anschaulich dargestellt an Familie Rath.
Bedrückend treffend
Mit Lunapark hat Volker Kutscher wieder einen spannenden Roman vorgelegt, der dem Leser kaum Zeit zum Durchatmen lässt und eine perfekte Fortsetzung der Reihe ist. Wer keine Lust zu lesen hat, kann sich die Hörbücher anhören und es andere machen lassen, oder einen Blick in die hochgelobte und preisgekrönte Serie Babylon Berlin riskieren. Dort ist nicht alles wie in den Büchern, aber die Atmosphäre ist ideal getroffen. Eine Besprechung wird beizeiten auf der Histo-Couch an anderer Stelle erfolgen. Wer keine Lust auf die Fernsehserie hat, ist mit dem Original in Roman immer gut bedient. Man darf im wahrsten Wortsinn auf die weiteren Bände gespannt sein.
Volker Kutscher, Kiepenheuer & Witsch
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