Der Tag X

  • Blessing
  • Erschienen: Januar 2017
  • 5
  • Blessing, 2017, Titel: 'Der Tag X', Originalausgabe
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Birgit Stöckel
961001

Histo-Couch Rezension vonFeb 2017

24 Stunden, die alles hätten verändern können

17. Juni 1953 - der Tag, an dem 24 Stunden lang alles möglich schien, und der in die Geschichte eingegangen ist. In der DDR gärt die Unzufriedenheit, die Lebensbedingungen verschlechtern sich, und schließlich entladen sich Unzufriedenheit und Frustration in Unruhen und Aufständen in fast allen größeren Städten Ostdeutschlands. Mittendrin finden sich die angehende Abiturientin Nelly, der junge Uhrmacher Wolf und die Reinemachfrau Lotte sowie deren Cousin Marc mit seiner Frau Katharina. Sie alle leben in der DDR und haben so ihre Probleme mit dem täglichen Leben, die sie bewältigen müssen, und sie alle erleben die Wirren des 17. Juni auf unterschiedliche Art und Weise mit. Zudem spielen der Spion Ilja sowie die großen Politiker der damaligen Zeit wie Adenauer, Churchill, Beria und Chruschtschow eine Rolle.

Schilderung des Lebens in der DDR

Mit Der Tag X nimmt sich Titus Müller einem Thema der jüngeren deutschen Vergangenheit an, über das es überraschend wenig Romane gibt, obwohl es ein einschneidendes Ereignis war. Am 17. Juni 1953 schien für eine kurze Zeit plötzlich alles möglich: Die Verbesserung der Lebensbedingungen, das Abschütteln der kommunistischen Diktatur, ja sogar eine deutsche Wiedervereinigung.

Diese Unruhen und die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die dazu geführt haben, stellt Müller in gewohnt gekonnter Weise in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Durch die vielen unterschiedlichen Perspektiven bekommt man als Leser einen umfassenden Einblick in das damalige Geschehen. Dabei kommt eine Vielzahl an Themen zur Sprache: Der oft mühevolle und entbehrungsreiche Alltag der einfachen Leute, die Schwierigkeiten, die man als Mitglied einer kirchlichen Jugendorganisation hatte und die staatlichen Einmischungen sowie die Methoden, mit denen die Bevölkerung zur Kooperation "überredet" wurde. Doch auch die große Politik kommt nicht zu kurz. Die Nachwehen von Stalins Tod in der UdSSR, ihr Einfluss auf die ostdeutsche Regierung und was parallel dazu in der BRD passiert ist, das alles wird interessant dargestellt, ohne belehrend zu wirken. Für Spannung sorgt zudem die Spionagetätigkeit von Ilja, und es ist sehr faszinierend zu lesen, wie die Geheimdienste damals vorgegangen sind, was für technische Möglichkeiten sie schon hatten und welche Objekte bei den Einsätzen verwendet wurden.

Weder Superhelden noch Bösewichte

Dass der Autor selbst in der DDR geboren und aufgewachsen ist, kommt ihm vor allem bei der Schilderung des Alltags- und Schullebens zugute, auch wenn er deutlich zu jung ist, um den Aufstand selbst miterlebt zu haben.

Der größte Pluspunkt dieses Romans ist das wertfreie Erzählen, das Müller ausgezeichnet beherrscht. Keine seiner Figuren ist Schwarz-Weiß gezeichnet, sie alle haben Schwächen und Fehler und handeln im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Was er aufzeigt, ist, dass es einfach Menschen waren, die damals dabei waren - auf beiden Seiten. Natürlich ist es schockierend, in aller Deutlichkeit vor Augen geführt zu bekommen, wie die Stasi teilweise vorgegangen ist, um neue Informanten zu gewinnen oder Leute wieder auf die Parteilinie einzuschwören. Doch ebenso wird deutlich, dass es auch in dem Parteikader solche und solche Menschen gab, dass es welche gab, die von dem Kommunismus und dem Weg dorthin völlig überzeugt waren, die aber auch fähig waren, diese Überzeugungen infrage zu stellen. Diese Menschlichkeit macht das Buch so großartig, es regt den Leser zum selbst Denken an und zeigt ihm nicht einfach auf, was er für gut und was für böse halten soll.

Der Tag X ist ein hervorragender, mitreißender Roman, der den Leser förmlich in die Geschichte saugt und ihm das Gefühl gibt, mittendrin gewesen zu sein. Das liegt zum einen an dem Thema, das noch "unverbraucht" und per se spannend ist, zum anderen an der Erzählkunst des Autors, der es fertig bringt, seine Leser abzuholen und durch die Geschehnisse zu führen, wie es nicht viele können.

Der Tag X

Titus Müller, Blessing

Der Tag X

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