Im Lautlosen

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  • Erschienen: Januar 2017
  • 3
  • , 2017, Titel: 'Im Lautlosen', Originalausgabe
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Annette Gloser
881001

Histo-Couch Rezension vonJul 2017

Als die grauen Busse kamen

1926 lernen sich Richard und Paula an der Hamburger Universität kennen. Beide studieren Medizin, wenn auch nicht im gleichen Semester. Richard als Sohn einer gut situierten Handwerkerfamilie wird von vielen Kommilitonen als nicht ebenbürtig angesehen. Die hübsche Paula dagegen, als Tochter eines renommierten Psychiaters, kommt zwar aus der richtigen Familie, hat aber als Frau mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Die beiden merken bald, dass sie offenbar füreinander gemacht sind. Sie lieben sich, sie heiraten, und Richard kann seinen Traum verwirklichen, als Arzt in der Psychiatrie zu arbeiten. Der grausame Tod seines Bruders, der schwer traumatisiert die Schlacht vor Verdun überlebte und dann in einer psychiatrischen Klinik mit folterähnlichen Behandlungsmethoden gequält wurde, hat Richards Berufswahl und seine gesamte Sicht auf die Welt und die Politik beeinflusst. In Paula findet er nicht nur eine geliebte Frau sondern auch eine gleichgesinnte Kollegin. Allerdings bleibt Paula die Möglichkeit verwehrt, ebenfalls in der Psychiatrie zu arbeiten. Als Frau ist sie dort nicht erwünscht. So arbeitet sie bis zur Geburt ihrer Zwillinge in einem Kinderkrankenhaus. Dann aber ändert sich ihr ganzes Leben, denn ihr Sohn Georg wird taub geboren. Richard und Paula setzen alles daran, ihren Sohn bestmöglich zu fördern.

Als die Nazis die Macht übernehmen müssen die jungen Eltern feststellen, dass ihr kleiner Sohn mit seiner Behinderung in das Visier fanatischer Rassehygieniker gerät. Aber nicht nur im Privaten wird Richard mit diesem Problem konfrontiert. Als Arzt in einer psychiatrischen Anstalt soll er Fragebögen über seine Patienten ausfüllen. Und dann berichtet ein ehemaliger Kollege von Morden an Patienten. Richard versucht alles, um seine Patienten zu schützen.

Todesgötter in Weiß

Im Lautlosen ist ein doppeldeutiger Titel. Man könnte ihn auf die Taubheit des kleinen Georg beziehen, der sein Leben im Lautlosen verbringt. Oder man nimmt den Titel als Verweis auf jenes Töten von kranken Menschen, das abgeschottet von der Öffentlichkeit, im Lautlosen sozusagen, vollzogen wurde. Das Euthanasieprogramm der Nazis ist ein Thema, das während des Zwölfjährigen Reiches viele Befürworter fand und nach 1945 sehr schnell unter den Teppich gekehrt wurde. Weil nicht sein kann was nicht sein darf? So mancher wollte wohl gerne möglichst schnell die grauen Busse vergessen, in denen die zum Tode verurteilten Patienten abgeholt und später auch mit Abgasen ermordet wurden. Melanie Metzenthin setzt mit ihrem Roman jenen Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern ein Denkmal, die sich gegen die Tötung ihrer Patienten wehrten und versuchten, sie zu schützen. Allerdings vermag auch dieser Roman nicht, das ganze Grauen, die ganze Grausamkeit der "Aktion T4", wie die gezielte Auslöschung "lebensunwerten" Lebens genannt wurde, aufzuzeigen. Es gelingt der Autorin jedoch, auch die Geschichte der Euthanasie aufzuzeigen, deren Vordenker bereits lange vor Hitlers Machtergreifung ihre Ideen publizierten. Als Leser kann man mitverfolgen, wie sich das Programm entwickelte, von der Sterilisation hin zum Mord. Dabei wird auch aufgezeigt, wie ambivalent Ärzte und Pflegepersonal sich oft verhielten, in welche Entscheidungszwänge sie geraten konnten, welcher Druck auf sie ausgeübt wurde. Viele Ärzte jedoch wurden aus Überzeugung zu Todesgöttern, und auch mit solchen wird man in diesem Roman konfrontiert.

Aufrecht in dunkler Zeit

Richard und Paula sind ein sympathisches und liebenswertes Paar. Insbesondere Richard verkörpert unbeirrbar hohe ethische und moralische Werte. Vielleicht ist das manchmal schon fast zu geradlinig. Paula dagegen wird von der Autorin der eine oder andere kleine Irrweg gestattet. Vieles läuft bei den beiden erstaunlich komplikationslos. So wird es natürlich als Schock für die jungen Eltern geschildert, als sie feststellen, dass ihr kleiner Sohn taub ist. Aber insbesondere Paula steht sofort auf, geht los und sucht nach Lösungen für das Problem. Und findet sie auch ganz schnell und komplikationslos. Auch die Entwicklung des kleinen Georg, unterstützt durch seine hörende Zwillingsschwester, verläuft so gut, dass es jahrelang gelingt, Ärzte und andere böswillige Menschen zu täuschen. Da mag jeder Leser für sich selbst entscheiden, ob das für ihn glaubhaft erscheint. Auch manche andere glückliche Wendung in diesem Roman muss man einfach glauben wollen. Dennoch verfolgt man das Schicksal von Richard und Paula und ihrer gesamten Familie mit großer Anteilnahme. Viele Protagonisten kann man ins Herz schließen und darauf hoffen, dass sie alles gut überstehen. Das betrifft übrigens auch Richards erfindungsreiche Handwerkerfamilie mit ihrem herzerwärmenden Mutterwitz und ihrem Pragmatismus. Melanie Metzenthin erzählt ihre Geschichte nicht mit großen Gesten und überzogener Dramatik. Eine ganz normale deutsche Familie, zwei Ärzte, zwei Menschen, die sich entscheiden, das Richtige zu tun und dafür viel aufs Spiel setzen. Man folgt ihnen gerne durch den Roman, man hofft und bangt mit ihnen.

Ein Schlaglicht

Im Lautlosen kommt nicht spektakulär daher, eher sachte, fast ein wenig alltäglich. Und dennoch hat dieser Roman eine spektakuläre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die wie ein Schlaglicht einen Teil des ganz normalen Bösen beleuchtet, das zwölf Jahre lang Deutschland beherrschte. Das Nachwort der Autorin geht noch einmal auf die Fakten und die Vorgeschichte zur "Aktion T4" ein und bietet wertvolle Informationen. Wer sich für die Zeit des Nationalsozialismus interessiert, hat hier ein wichtiges Buch über eines der großen Verbrechen dieser Zeit, vor allem aber über Menschen, die in dieser Zeit nicht bereit waren, ihre eigenen Werte aufzugeben.

Im Lautlosen

Melanie Metzenthin, -

Im Lautlosen

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