Stella
- Hanser
- Erschienen: Januar 2019
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- Hanser, 2019, Titel: 'Stella', Originalausgabe
Kontrovers und anregend
Stella Goldschlag war eine deutsche Jüdin, die Hitlers Schreckensherrschaft nur überlebte, weil sie als sogenannte Greiferin für die Gestapo arbeitete und andere Juden verriet. Zunächst versuchte sie damit, ihre Eltern vor der Deportation zu retten, doch sie machte auch weiter, als diese schließlich trotz Stellas Kollaboration nach Theresienstadt gebracht wurden. Takis Würger nähert sich der Figur der Stella in seinem gleichnamigen Roman an und versucht, eine Ahnung dieser Frau greifbar zu machen.
Der Roman hat bei seinen Lesern kontroverse Reaktionen ausgelöst. Neben begeisterten Stimmen finden sich, insbesondere in den „großen“ Feuilletons, auch viele harsche Kritiken: Kitsch, Tatsachenverdrehung, Verherrlichung von Antisemitismus und der NS-Zeit. Außerdem wird Würger von einigen Lesern immer wieder mit Claas Relotius verglichen, dem Spiegel-Redakteur, der viele seiner Reportagen mit mehr Fiktion als Fakten ausgestattet hat.
Ein Roman und kein Sachbuch
Der letzte Vorwurf lässt sich relativ leicht entkräften, schließlich hat Würger das getan, was auch Relotius besser hätte tun sollen, um seiner Phantasie ein Ventil zu bieten: einen Roman geschrieben. Der Kritikpunkt rührt aber auch an einem ewigen Streitpunkt unter Fans des historischen Romans: Wie viel Fiktion darf sein, und wie genau muss sich der Autor an die (bekannten) Fakten halten? Die Meinungen gehen darüber weit hinaus und erklären zum Teil die unterschiedlichen Reaktionen auf „Stella“. Takis Würger hat einen Roman geschrieben, kein Sachbuch, und nimmt sich einige Freiheiten. So spielt sein Roman im Jahre 1942, Stella hat aber wohl erst ab 1943 für die Gestapo gearbeitet. Der Grund für diese Abweichung erschliesst sich dem Leser während der Lektüre nicht so ganz. Dass er die Geburt ihrer Tochter vorverlegt hat, ergibt sich hingegen aus der Dramaturgie. Allerdings sind solche Änderungen natürlich schwierig, da Stella Goldschlag ihr Leben erst in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts beendete und ihre Tochter wohl noch lebt. Vielen stoßen Veränderungen von bekannten Daten in der jüngeren Vergangenheit viel stärker auf als bei Personen, die vor Hunderten von Jahren gelebt haben und bei denen vieles sowieso nicht (mehr) sicher belegt ist. Trotzdem ist „Stella“ ein Roman, und der Autor hat das Recht, sich erzählerische Freiheiten herauszunehmen. Ob man das nun mag oder nicht, muss jeder Leser für sich entscheiden.
Sprachlich talentiert
Sprachlich beweist Takis Würger großes Talent. Er schreibt in einem sehr verknappten Stil, der den Leser herausfordert und ihm nicht alles auf dem Silbertablett serviert. Das erfordert Aufmerksamkeit und Konzentration, bringt aber auch viele leise Töne und viele unterschwellige Strömungen hervor, die den Roman ungemein bereichern. Allerdings birgt er auch Nachteile und zwar in der Charakterzeichnung. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht des jungen Friedrich, der nach Berlin kommt, weil ihm die Gerüchte über die Deportationen zu ungeheuerlich vorkommen und er überprüfen möchte, ob so etwas wirklich möglich ist. Zudem ist es für ihn eine willkommene Möglichkeit, seinem alles andere als glücklichen Elternhaus zu entfliehen. In Kristin, wie Stella sich zunächst nennt, findet er die erste große Liebe, und das Vermögen seines Vaters ermöglicht ihm ein überraschend sorgenfreies Leben im Berlin der Kriegsjahre. Von den Deportationen bekommt er nicht viel mit - bis Stella anfängt, für die Gestapo zu arbeiten und sein Herz und sein Gewissen plötzlich in einen Konflikt geraten.
Stellas Verhalten erlebt man nur durch Friedrichs Augen, ihre Widersprüchlichkeit, ihre Unsicherheit und ihre Lebensfreude. Ihre Motivation wird klar, sie möchte ihre Eltern retten. Allerdings bleibt der Gewissenskampf, den es vermutlich gegeben hat, sehr nebulös. Das liegt neben der indirekten Darstellung durch Friedrichs Augen eben auch an dem knappen Stil, der hier kontraproduktiv wirkt, weil er Stella viel zu blass und wenig greifbar wirken lässt. Gelungen ist hingegen die Charakterisierung des fiktiven SS-Manns Tristan von Appen, auch wenn diese für einige nicht unproblematisch sein dürfte: Tristan erweist sich nämlich für Friedrich als guter Freund, als Lebemann, als jemand, der die von der eigenen Partei gesetzten Regeln übertritt, in dem er in illegalen Lokalitäten Jazz hört. Ein überschaubares Risiko angesichts seiner Stellung. Ein mutiger Schritt, insbesondere für einen deutschen Autor, einen SS-Mann nicht als das personifizierte Böse darzustellen. Verherrlichung findet sich darin aber nicht, denn es wird mehr als deutlich, dass Tristan kein bloßer Mitläufer ist, sondern aus tiefster Überzeugung hinter der perversen Ideologie der Nationalsozialisten steht und somit zwar eine literarisch interessante Persönlichkeit, aber definitiv kein Sympathieträger ist.
Fazit:
„Stella“ ist ein mutiger Roman eines talentierten Autors, der den Leser unweigerlich mit der Frage konfrontiert, wie man selber anstelle von Stella und auch von Friedrich gehandelt hätte. Zeitgleich entwirft er ein Bild des Kriegs-Berlins. Leider versagt er ausgerechnet in der tiefer gehenden Darstellung der titelgebenden Figur, die zu sehr an der Oberfläche bleibt. Insgesamt aber trotzdem lesenswert.
Takis Würger, Hanser
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