Eine starke und nicht immer einfache Mutter-Sohn-Beziehung
Mit „Die Farbe von Milch“, dem ersten Buch der Autorin, das ins Deutsche übersetzt wurde, hat Nell Leyshon eine wahre Perle der Historienromane erschaffen. Ein feines Buch der leisen Töne, das noch lange nachhallt. Dementsprechend sind die Erwartungen sehr hoch, was das Buch „Der Wald“ angeht. Doch wie das mit hohen Erwartungen manchmal so ist, werden sie nicht immer erfüllt. So auch nicht in diesem Fall. Das mag auch daran liegen, dass der Klappentext (mal wieder) etwas anderes suggeriert, als man im Buch vorfindet.
Pawel wächst wohlbehütet in Warschau auf, obwohl der Zweite Weltkrieg das Alltagsleben immer schwieriger werden lässt. Sein Vater, ein Künstler, engagiert sich im Widerstand gegen die Nazis und bringt eines Tages einen schwer verwundeten englischen Piloten ins Haus, der allen Voraussagen zum Trotz überlebt und die Familie in höchste Gefahr bringt. Pawel und seine Mutter Zofia fliehen in den Wald, wo sie die restliche Kriegszeit verbringen - allein und von allem, was sie kennen, getrennt. Jahre später führt Pawel, der sich jetzt Paul nennt, ein Leben als Künstler in England, seine Mutter Zofia, die ihren Namen in Sofia geändert hat, lebt in London. Haben ihre Erlebnisse im Krieg sie stark genug gemacht, eine Krise in der Gegenwart zu überstehen?
Mutter und Sohn müssen erst zusammen finden
So ungefähr lässt sich der Klappentext wiedergeben. Wer jetzt allerdings einen spannenden Roman um die Ereignisse aus der Kriegszeit, aufregende Erlebnisse im Wald und einer Krise in der Gegenwart, die ihren Ursprung in den Erlebnissen von damals hat, erwartet, wird enttäuscht werden. Denn die im Klappentext beschriebenen Geschehnisse sind alle sozusagen nur Beiwerk für das eigentliche zentrale Thema: Die Beziehung zwischen Sofia und Paul. Auf dieser Mutter-Sohn-Beziehung liegt das Hauptaugenmerk dieses Romans, auch wenn man das erst nach und nach während der Lektüre bemerkt.
Zwischen Pawel und seiner Mutter ist es kompliziert. Vor dem Krieg ist die Familie wohlhabend und privilegiert. Pawels Vater ist Künstler, seine Mutter spielt Cello und beschäftigt sich auch sonst gerne mit den „schönen Künsten“. Es gibt mehrere Dienstboten, darunter auch ein Kindermädchen, die das Leben angenehm machen und somit muss sich Zofia nicht rund um die Uhr um ihren Sohn kümmern. Während des Krieges ist das anders und Zofia hadert damit, plötzlich hauptsächlich Mutter zu sein und auch nur als solche wahrgenommen zu werden und nicht mehr als eigenständige Person, als Frau. Zudem ist Pawel auch ein besonderes Kind: Er hat eine stark ausgeprägte Fantasie, die auch vor schrecklichen Szenarien keinen Halt macht, er neigt zum Dramatisieren und fordert viel Aufmerksamkeit und Sicherheit ein. Damit überfordert er seine Mutter oft. Gleichzeitig vermittelt die Autorin aber auch immer wieder die tiefe, bedingungslose Liebe Zofias zu ihrem Sohn, von der sie immer wieder überwältigt wird, die nur im Alltag so oft so wenig Chancen hat.
Sprachlich erneut ein Genuss
Sprachlich überzeugt Nell Leyshon auch in diesem Buch, wenn auch auf ganz andere Weise als in „Die Farbe von Milch“. Sie schafft es, mit einer einzelnen Szene die bedrückende Atmosphäre des Krieges intensiver und eindringlicher heraufzubeschwören, als es anderen Autoren mit einem ganzen Buch gelingt. Sie schreibt auch immer wieder Sätze, die ihre ganz eigene Wucht entfalten und tief berühren oder nachdenklich machen. Allerdings gibt es leider ebenso Längen. Denn egal wie schön es ist, die Beschreibungen von Bäumen, Blättern und anderen Pflanzen zu lesen, auf Dauer wird es ermüdend und somit zieht sich gerade der Aufenthalt im Wald ganz schön in die Länge.
Als die Erzählung nach London wechselt, wird es wieder interessanter. Allerdings muss man sich die Zeit, in der die Krise zwischen Mutter und Sohn auftritt, vor Augen halten, denn heutzutage würde Pawels/Pauls Geheimnis keine solche mehr auslösen. Erschwert wird das jedoch dadurch, dass Leyshon keine konkreten Zeitangaben macht. Anhand des Kriegsendes kann man überschlagsweise davon ausgehen, dass die diese Geschehnisse Ende der 60er, Anfang der 70er spielen und da war eben manches noch anders als heutzutage.
Fazit:
So gut Leyshon auch schreiben kann und so einfühlsam sie über weite Strecken die Mutter-Sohn-Beziehung darstellt, so bleibt man am Schluss doch ein wenig ratlos mit der Frage nach der Aussage dieser Geschichte zurück. Dass Mutterliebe viel erträgt, viel verzeiht und manchmal nicht ganz einfach ist? Das ist allerdings keine sonderlich überraschende Erkenntnis, wie wohl die meisten Mütter (und Väter) bestätigen werden. Außerdem ist die Gesamtkomposition nicht völlig geglückt. Die einzelnen Abschnitte sind allesamt überwiegend sehr interessant, doch in einigen Punkten auch zu knapp. Es bleibt vieles unerwähnt. Dazu rutscht auch das eigentliche Thema immer wieder aus dem Fokus. Trotzdem ein durchaus lesenswertes Buch, wenn man sich immer wieder den eigentlichen zentralen Punkt ins Gedächtnis ruft. Auf jeden Fall darf man auf weitere Bücher der Autorin gespannt sein.
Nell Leyshon, Eisele
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