Deutlich mehr als nur ein weiteres Buch über den Werwolf
In der ersten Hälfte der 1920er Jahre sorgt ein Serienmörder in Hannover für großes Aufsehen. Immer wieder verschwinden Jungen im Alter zwischen dreizehn und achtzehn Jahren, die Ermittler kommen keinen Schritt voran. Kommissar Robert Lahnstein aus Bochum wird um Hilfe gebeten, jedoch von den eigenen Kollegen hintergangen. Allen voran Kommissar Müller, der gar nicht erfreut ist, dass man ihm den „großen“ Ermittler aus dem Ruhrgebiet vor die Nase setzt, zumal dieser mit einem solchen Fall ebenfalls keinerlei Erfahrung hat. So sitzen immer wieder verzweifelte Mütter und Väter vor Lahnstein, weil ein weiteres Kind vermisst wird. Allein, es gibt keine Spuren, keine Leichen. Es gibt rein gar nichts.
Nun ja, da wäre immerhin der Hinweis von Lahnsteins Zimmerwirtin, die ihn schon früh darauf hinweist, dass man die Fleischpreise beachten solle. Auffällig hierbei sei, dass diese kurz nach dem Verschwinden eines Jungen sinken. Außerdem solle man sich mit Fritz Haarmann beschäftigen, den ein Zeuge schon vor einiger Zeit als verdächtig gemeldet habe. Zunächst ist Lahnstein erstaunt, dass er keine Akte über Haarmann im Archiv findet und hat Müller in Verdacht. Wenig später liegt der Vorgang auf seinem Tisch und Lahnstein kommt aus dem Erstaunen nicht mehr raus. Haarmann, am 25. Oktober 1879 geboren, war 1897 in einer Pflegeanstalt und wurde dort als „geisteskrank“ eingestuft. „Angeborener Schwachsinn“ stand dort zu lesen. Danach hatte Haarmann ständig mit der Polizei zu tun, saß mehrfach im Gefängnis und ist einschlägig vorbestraft. Eine erneute Überwachung Haarmanns bringt zunächst nichts ein, selbst der heimliche Einsatz zweier Ermittler aus Berlin führt zu einem unrühmlichen Ende. Erst nach Opfer Nummer 24 kommt es zur Verhaftung; und zu einem zweifelhaften Geständnis.
Die Weimarer Republik wird lebendig
Dirk Kurbjuweit, Redakteur bei der „Zeit“ und beim „Spiegel“, schreibt eine spannende Geschichte über Deutschlands bekanntesten Serienmörder. Mehrere Bücher sind über Haarmann erschienen, das bekannteste dürfte von Theodor Lessing („Haarmann. Geschichte eines Werwolfs“; erschien erstmals 1925) sein, auf das sich der Autor ausdrücklich als Quelle bezieht. So verwundert es nicht, dass Lessing einen kleinen Gastauftritt gegen Ende des Romans erhält. Doch das vorliegende Buch ist weit mehr als der x-te Aufguss eines weitgehend bekannten Falles, dessen „Popularität“ auch darin begründet sein mag, dass er bis heute nicht endgültig aufgeklärt wurde.
„Richtig“, sagte Noske, sah aber nicht Kogel an, sondern Lahnstein. „Sie fragen sich, ist das jetzt die Demokratie, die Republik, zwölf Tote in einem Jahr, und kein Täter, keine Spur? Unter dem Kaiser wäre das nicht passiert, sagen sie. Kann die Demokratie nicht für unsere Sicherheit sorgen?, fragen sich die Leute, nicht wahr? Ich höre die Leute, ich rede mit ihnen“.
Der ambivalente (und fiktive) Ermittler Lahnstein, dessen persönlicher Hintergrund deutlich zu viel Platz einnimmt, ist Sozialdemokrat, will mit seinem Handeln zum Gelingen der neuen Republik beitragen. Die Kaiserzeit ist vorbei und damit auch deren Methoden. Eine Demokratie kann nicht entstehen, wenn es illegale Methoden bei der Polizei gibt. So nimmt das Thema Folter einen großen Raum ein. Darf man diese einsetzen, um an ein Geständnis zu kommen? Lahnstein sagt klar nein, doch letztendlich stellt sich die Frage, was Haarmanns Geständnis wert ist? Was hat er freiwillig gesagt, was aufgrund des Vorgehens der Polizisten?
„Ist Haarmann schwul?“
„Schwul, was heißt schwul?“, fragte Müller.
„Männerliebe.“
„Das weiß ich. Aber ist jemand schwul, weil er mal einen Jungen begehrt hat? Waren die alten Griechen schwul?“
Haarmann gehört zu jenen Menschen, die „am 17.5. geboren“ wurden und somit als sogenannte „Hundertfünfundsiebziger“ gelten, also Homosexuelle. Ein weiteres Thema, welches ebenfalls viel Platz einnimmt. Vermeintliche Zeugen sagen lieber nichts, sie haben Angst vor den Konsequenzen, als 175er zu gelten. Neben der Arbeit der Polizei und der Stricherszene am Hauptbahnhof, gibt es noch einen dritten Schwerpunkt. Kurbjuweit versucht – und dies gelingt ihm sehr gut – die damalige politische Lage aufzuzeigen.
„Der Irrsinn unserer Zeit ist“, sagte sie, „dass man die bestraft, die gegen unsere Gesetze verstoßen, aber die gewähren lässt, die unsere Gesetze abschaffen wollen.“
„Würden die Kommunisten gewählt“, sagte er, „könnten sie die Gesetze legal abschaffen und durch neue ersetzen.“
„Sind Sie auch Kommunist?“
Die „Goldenen 20er“ mit ihrem Glanz und Glimmer mag es in Berlin gegeben haben, in Hannover eher nicht. Hier herrscht Armut, arbeitet eine Polizei mit minimaler Besetzung, dem Versailler Vertrag sei Dank. Oder dem „Versailler Diktat“, wie nicht wenige von Lahnsteins Kollegen sagen. Viele Polizisten sind noch immer Kaisertreue, zumindest aber Monarchisten. Sie haben kein Interesse an erfolgreicher Polizeiarbeit, denn so drängt sich in der Öffentlichkeit und den linken wie rechten Medien der Verdacht auf, dass die Republik – und damit die Demokratie – die Kinder nicht schützen kann. Die politischen Richtungskämpfe und die daraus resultierenden Folgen für die Gesellschaft werden umfangreich dargestellt. Auch wird die Rolle des Oberpräsidenten der Provinz Hannover, dem Sozialdemokraten Gustav Noske, im Fall der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angesprochen.
Fazit:
Die eigentliche Mordermittlung, die Auseinandersetzung mit § 175 und den politischen Zuständen der neuen Republik sind die treibenden Themen, die allerdings ein wenig den Roman überfrachten. Autor Dirk Kurbjuweit will den Lesern die Chance geben, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen; ein eher fraglicher Ansatz, auf den man sich allerdings einlassen muss. Im Ergebnis ist die Themenmischung gut gelungen und so bietet „Haarmann“ einmal mehr die Gelegenheit, sich mit dem „Totschläger von Hannover“ zu beschäftigen. Das Finale, sprich der Prozess und die Urteilsbegründung, sowie das Geständnis von Haarmann regen auch über das Buchende zum Nachdenken an. Sprachlich anspruchsvoll, aber warum fehlen bei der wörtlichen Rede die Anführungszeichen?
Dirk Kurbjuweit, Penguin
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