Der Hof der Wunder
- Piper
- Erschienen: Dezember 2019
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Eine schwarze Katze und die Elenden von Paris
Paris, etwa 1823 bis 1832: Nina wird „Die schwarze Katze“ genannt. Sie gehört zur Gilde der Diebe und Einbrecher und ist selbst eine der begabtesten „Katzen“. Ganz egal was, ganz egal wie gut gesichert, Nina kommt überall hinein und kann alles stehlen. Obwohl sie noch sehr jung ist, wurde sie am Hof der Wunder schon zur Legende. Der Hof der Wunder, das sind die Pariser Gilden der Ausgestoßenen und Elenden, der Diebe, der Mörder, der Huren und Bettler, die in den Katakomben unter der großen Stadt ihr Zuhause gefunden haben und dort nach strengen Gesetzen leben. Doch in Nina schlägt auch ein großes Herz und für ihre Ziehschwester Ettie ist sie bereit, große Opfer auf sich zu nehmen. Schon einmal hat Nina eine Schwester verloren, denn der gewissenlose Vater hat die schöne Azelma an die Gilde des Fleisches verkauft. Nun gehört sie dem grausamen Kaplan, dem Tiger, der die Frauen in seiner Gilde quält und opiumsüchtig macht, sodass sie seinen Misshandlungen keinen Widerstand entgegensetzen können. Als Ettie das gleiche Schicksal droht, nimmt Nina den Kampf gegen den Tiger auf, wohl wissend, dass sie kaum eine Chance hat.
Parallelwelten unter der Stadt
Liest man „Der Hof der Wunder“ so fällt schnell auf, dass die Autorin einen anderen Roman als Grundlage für ihre Erzählung genutzt hat: „Die Elenden“ von Victor Hugo. Allerdings wurde hier nicht schnöde abgekupfert oder einfach nur in moderner Sprache erzählt. Nein, Kester Grant hat die Vorlage gedreht, gewendet, neue Perspektiven gefunden, andere Schwerpunkte gesetzt, und so etwas völlig Neues geschaffen. Zwar begegnet man immer wieder jenen Protagonisten, die man schon aus „Die Elenden“ zu kennen glaubt, aber es sind eigentlich nur die Namen, die sich gleichen, und auch die Zeit ist in etwa dieselbe. Was Kester Grant heraufbeschwört ist eine phantastische Welt neben der bürgerlichen Pariser Realität. Eine Welt, in der die Elenden von Paris nach ihren eigenen Regeln leben, ihren eigenen Glanz entfalten und ihre eigenen Machtkämpfe ausfechten. Hauptfigur ist dabei Eponine (Nina), die Tochter des habgierigen Gastwirtes Thénardier, eine liebenswerte Kratzbürste und hochbegabte Einbrecherin. Um sie herum drapiert sich die Romanhandlung, von den Jahren nach der napoleonischen Herrschaft bis hin zum Aufstand im Juni 1832. Dabei ist die zeitliche Orientierung für den Leser jedoch vage, nur die Jahreszahlen auf den Kapitelvorblättern weisen darauf hin. Für Nina und ihre Gefährten in ihrer zum Teil mystisch anmutenden Welt spielen die Jahreszahlen der braven Bürger keine Rolle, werden historisch bedeutsame Ereignisse kaum wahrgenommen. Und so scheint diese Geschichte ein wenig außerhalb der Zeit zu schweben bis schließlich der grobe Strick der Revolution sie wieder in die reale Historie zieht.
Eine gehörige Prise Fantasy
Nein, in diesem Roman gibt es weder Drachen noch sonstige Fabelwesen. Dennoch erscheint Ninas Hof der Wunder so unwirklich, dass es schon einen gewissen Hang zur Fantasy braucht, um sich voll und ganz darauf einlassen zu können. So werden zum Beispiel auch Ereignisse am Königshof geschildert, die ganz sicher nicht stattgefunden haben, und Inspektor Javert ist eine Frau, eher abwegig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und auch der Hof selbst erscheint mit seinen Lumpengestalten und seiner Pracht eher einem Märchen entsprungen als der Realität. Aber wenn man sich als Leser von derartigen Nebensächlichkeiten frei machen und auf die Geschichte einlassen kann, dann wird man mitgenommen auf die Reise in eine düstere, manchmal gruselige, auf jeden Fall gefahrvolle und immer spannende Welt, bevölkert mit Widerlingen jeglicher Couleur, mit Menschen, deren Wert man oft erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt, mit mutigen Träumern von einer besseren Welt und vor allem mit einer jungen Frau, die bereit ist, für einen Menschen, den sie liebt, alles zu opfern. Und wenn man anfangs vielleicht auch etwas befremdet ist, so stellt man doch bald fest, dass man mit Nina fühlen kann. Kester Grant gelingt es, die Schauplätze ihres Romans sehr plastisch zu beschreiben, sodass man immer ein recht gutes Bild vor Augen hat. Und sie schafft es, ihre Leser all die Emotionen miterleben zu lassen, die auch Nina, die als Ich-Erzählerin im Roman auftritt, bewegen.
Fazit:
Der Griff zu diesem Roman lohnt sich durchaus. Er hat etwas Märchenhaftes und verlangt von seinen Lesern, sich von den puren historischen Fakten zu lösen. Aber er bietet Spannung, gute Unterhaltung und eine Story, die ihre Leser fesseln kann. Nichts für Puristen, eher etwas für diejenigen unter den Lesern, die auch mal im Grenzland zur Fantasy wandeln können.
Kester Grant, Piper
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