Eine Weltstadt vor dem Untergang
Berlin, Juli 1936. Überall in der Stadt hängen neben den Hakenkreuzfahnen weiße Fahnen mit fünf Ringen darauf, denn in einer Woche starten die Olympischen Spiele. Da stirbt im Olympischen Dorf in einem Restaurant ein Sportfunktionär aus Amerika. Das beobachtet unter anderem Fritze Thormann, der gerade seinen Ehrendienst ableistet und für einen Sportler Besorgungen macht. Da man sich keinen Skandal um die friedlichen Spiele in Berlin leisten kann, wird in alle Richtungen ermittelt, auch wegen Mord, und so wird Oberkommissar Gereon Rath von höchster Stelle abkommandiert, um dem Fall auf den Grund zu gehen.
Derweil hat Gereon zu Hause Ärger, denn seine Frau Charly ist ausgezogen. Dies allerdings nur für die Zeit der Spiele, denn Gereon musste olympische Gäste in seiner Wohnung aufnehmen, ohne Rücksprache mit Charly, die sich währenddessen bei ihrer Freundin Greta einnistet. Während Fritze weiter seinen Ehrendienst schiebt und am liebsten von seinen neugierigen Kameraden in Ruhe gelassen werden würde, ereignen sich rund um Berlin weitere Unfälle, hinter denen auch Mord stecken könnte. Sie alle zeigen eine Vorgehensweise, die Gereon nur zu bekannt vorkommt.
So muss Gereon nicht nur den, wie sich herausstellt, Mord an dem Sportfunktionär aufklären, sondern auch Licht hinter die Mordserie an ehemaligen Offizieren bringen. Gibt es da einen Zusammenhang? Was steckt dahinter? Zudem gibt sich Berlin während der Spiele zwar weltoffen, doch fürchten sich viele vor dem, was nach den Spielen passieren wird. Gereon gerät zwischen die Fronten der SS und alten Bekannten. Er muss nicht nur um das eigene Leben fürchten, sondern auch um das von Fritze und Charly…
Mehr Schein als Sein
Mit seinem achten Roman um Oberkommissar Gereon Rath führt Autor Volker Kutscher seine Krimireihe im Berlin der Vorkriegszeit konsequent fort und bezieht sich dabei auch auf die sieben vorherigen Bände. Nicht nur tauchen alte Bekannte wieder auf, auch Handlungsstränge aus den Vorgängern werden wieder aufgenommen und weitererzählt.
Gut eingefangen hat der Autor die Stimmung in Berlin, zunächst vor den Spielen, wo alle Welt darauf wartet, dass es endlich losgeht, dann bei der Eröffnungsfeier, zu der Gereon glücklicherweise Karten bekommen hat, und in den folgenden zwei Wochen immer wieder auf dem Olympischen Gelände. Dabei entlarven gerade Charly und ihre Bekannten die Spiele immer wieder als das, was sie eigentlich waren: Nicht die Beruhigung der Welt, dass Berlin und das Deutsche Reich eine friedliche, antisemitische, ausländerfreundliche Nation sind, sondern dass im Hintergrund und fernab der großen sportlichen Bühne doch alles viel schlimmer ist - und es nach den Spielen noch schlimmer werden wird. Wer auch nur ansatzweise unter dem Verdacht stehen könnte, nicht linientreu zu sein, wird seines Lebens nicht mehr froh werden. Dies wird an einigen Stellen deutlich, die Kutscher eindrucksvoll beschreibt und beim Leser mehr als nur ein mulmiges Gefühl hinterlässt.
„Es geht um Deutschlands Ruf in der Welt!“
Geschickt nutzt Kutscher mehrere Perspektiven, um die Situation in Berlin zu beschreiben. Nicht nur Gereon, Charly und Fritze sind Protagonisten in diesem Roman, sondern auch Gereons Gastfamilie, die von seiner Schwiegermutter bewirtet wird, wie auch Reinhold Gräf, Gereons Vorgesetzter und auch dessen Vorgesetzter Sebastian Tornow, der nur die Aufgabe hat, sich um die Witwe des ersten Opfers im Olympischen Dorf zu kümmern. Nebenbei übernimmt sie die Karten ihres Mannes und schaut sich als ehemalige Schwimmerin Wettkämpfe an, sehr zum Leidwesen Tornows, der sie gerne früher abgereist gesehen hätte, damit er sich mehr um seine eigenen Angelegenheiten kümmern kann.
Versteckter und offener Antisemitismus
Da Fritze sich um den amerikanischen Hochspringer Dave Albritton kümmert, einen schwarzen Athleten, der später die Silbermedaille gewinnen sollte, ist man als Leser auch direkt involviert in das Leben von Menschen, die nichts gegen Farbige haben, und wie man mit ihnen umging. Kutscher erweist sich wieder als geschickter Beobachter und beschreibt alle Situationen realistisch und nicht beschönigend. Das gilt für alle offiziellen Situationen wie auch die im kleinen Kämmerlein, die sowieso nicht bekannt werden sollen. Im Zentrum stehen dabei nicht nur die Spiele, sondern auch ein neues Medikament, das inzwischen verboten ist, namens Heroin, das aber vor allem von sogenannten Morphinisten eingenommen wird.
Kutscher hält seine Leser bis zur buchstäblich letzten Seite im Bann, aber mehr soll hier nicht verraten werden. Die einzelnen Erzählstränge sind so geschickt ineinander verwoben, dass man kaum einen herausnehmen kann, ohne wegen eines anderen in Erklärungsnot zu geraten. Zur Lektüre dieses Buches empfiehlt sich daher in jedem Fall die Kenntnis der vorherigen Bände, damit alle Zusammenhänge und alle Drahtziehereien richtig verstanden werden. Dann werden die 540 Seiten aus dem Hause Piper ein „unerträglich“ spannender Lesegenuß.
Fazit:
Gereon Raths achter Fall „Olympia“ ist nach dem spannenden „Marlow“ ein weiterer hoch-spannender Roman, der seinen Vorgängern in nichts nachsteht und dem Leser die beklemmende Atmosphäre der Stadt vor, während und nach den Olympischen Spielen 1936 sehr nahebringt. Der Autor zeigt sich in Bestform und aufgrund des kaum zu ertragenden Cliffhangers kann man den nächsten Band kaum erwarten. Besonders lesenswert.
Volker Kutscher, Piper
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