Die Nebelkrähe
- Steidl
- Erschienen: Februar 2019
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Oscar Wilde als ungebetener Geistergast
London, 1923: Peter Vane kämpft noch immer gegen die Schatten des Großen Krieges an. Unvermittelt findet er sich plötzlich im alten Kampfgeschehen wieder oder sieht seinen Freund Finley, von dem er nicht weiß, ob er den Krieg überlebt hat, nachdem er schwer verwundet von einem Krankentransport weggebracht worden war. Zuvor hatte Finley Peter eine Daguerreotypie gegeben, die er als „kleinen Schatz“ bezeichnet hatte, auf den Peter aufpassen solle.
Peter, den seine ansteigenden Visionen immer mehr verwirren, stolpert eher zufällig über die Gesellschaft „Society for Psychical Research“, die sich mit Paranormalität beschäftigt, und gerät in einen Strudel aus überraschenden Erkenntnissen und irritierenden Geschehnissen.
Quälende Verzweiflung mit einem Quäntchen Hoffnung
Peter Vane tritt als Ich-Erzähler auf, so dass der Leser eine eingeschränkte Sichtweise auf die gesamte Handlung hat, die dafür sorgt, dass die anfängliche Trostlosigkeit, aber auch die aufkeimende Hoffnung, etwas zu finden, das hilft, die Lasten zu lindern, einen unmittelbar treffen.
Schon auf den ersten Seiten überzeugen die präzise gewählten Bilder, die trotz der Kürze des Romans eine dichte Komplexität erzeugen. Die beklemmende und unheimliche Atmosphäre wird dabei überzeugend vermittelt, insbesondere bei der verwirrenden Szene der Seance, bei der Oscar Wilde erscheint. Da dieser mit keinem Wort im Rückentext des Buches erwähnt wird, ist es etwas überraschend.
Zusätzlich stellt sich heraus, dass Dolly, die den Krankenwagen gefahren hat, mit dem Finley abtransportiert wurde, Oscar Wildes Nichte ist. Fragen türmen sich innerlich auf: wie hängt alles zusammen? Was wird wichtig, was nicht? Wo muss man aufpassen? Gerade weil der Roman nicht allzu lang ist, erscheint jede Aussage, jeder Satz von höherer Bedeutung.
Wissenschaft triff auf Paranormalität
Peter Vane schreibt an seiner Doktorarbeit in Mathematik, ist also eher ein Mann der Wissenschaft als ein Phantast. Dass das eine das andere nicht ausschließen muss, beweisen andere Zeitgenossen, u. a. ein Freund von ihm, der ihn zu der besagten Gesellschaft bringt. Dabei ist es spannend zu beobachten, wie beispielsweise das automatische Schreiben rational erklärt werden soll oder Betrüger entlarvt werden, die mit billigen Tricks die Leute hinters Licht führen wollen.
Die Geschichte ist sehr verschlungen, vor allem weil immer neue Aspekte zutage befördert werden, die wieder zu anderen Erkenntnissen oder Personen führen. So zum Beispiel zu einer Prinzessin, die zwar eine sehr fantasievolle Lebensgeschichte zu erzählen weiß, die vielleicht sogar in manchen Teilen stimmen mag, die aber hauptsächlich frei erfunden ist.
So fühlt sich der Leser meist wie Peter Vane: wenn man gerade meint, die Lösung greifen zu können, entgleitet sie wieder, um schließlich erneut wieder zu verblüffen. Manches bleibt dabei ungeklärt, oder war es doch nur ein einfacher Schwindel?
Fazit:
Der Schreibstil mutet etwas altmodisch an, aber die Sprache ist wunderbar und die Personen mit ihren abenteuerlichen Geschichten äußerst skurril. Der Roman beruht auf einer wahren Begebenheit, weshalb man ihm verzeihen mag, dass nicht alles am Ende aufgeklärt wird. Dafür erfährt man noch abschließend, was aus den real existierenden Personen geworden ist.
Alexander Pechmann, Steidl
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