Der Besuch des Leibarztes
- Hanser
- Erschienen: Januar 2001
- 2
- Hanser, 1999, Titel: 'Livläkarens besök', Originalausgabe
Vom Scheitern eines Schreibtischrevolutionärs
Dänemark im 18. Jahrhundert: König Christian VII. gilt als geisteskrank, trotzdem geht formal alle Regierungsgewalt von ihm aus. De facto regiert allerdings sein Kabinett und der König dient nur dazu, die gefassten Beschlüsse mit seiner Unterschrift zu legitimieren. Da die Minister die Macht, die sie besitzen, sehr genießen und ihnen wenig an einer Änderung der Verhältnisse gelegen ist, wachen sie eifersüchtig darüber und sorgen dafür, dass keiner dem König wirklich nahe steht.
Doch als Christian VII. sich auf eine Europareise begibt, wird der junge deutsche Arzt und Aufklärer Johann Friedrich Struensee zu seinem Leibarzt ernannt. Struensee erlangt bald das volle Vertrauen des Königs und diesmal gelingt es nicht so ohne weiteres, Christian VII. wieder zu isolieren. Er stattet Struensee mit weitreichenden Vollmachten aus und macht ihn damit sozusagen zum Alleinherrscher. Doch Struensees Feinde geben sich nicht geschlagen und als der Arzt sich auch noch in die junge Königin verliebt, nimmt das Unheil seinen Lauf...
Tiefe Einblicke in die Abgründe bei Hof
Enquist begnügt sich nicht mit der Beschreibung der "Struenseezeit" (Struensee und der König treffen nach einem knappen Drittel der Geschichte aufeinander) oder der Erzählung der Liebesgeschichte (diese beginnt erst nach mehr als der Hälfte des Buchs), er zeichnet vor allem ein Sittengemälde des damaligen Dänemarks mit Hauptaugenmerk auf der politischen Situation und er zeigt auf, welche Abgründe sich im menschlichen Handeln verbergen können.
Für die Delegation der königlichen Macht an die Beamtenschaft müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein: Der König muss entweder arbeitsunwillig, alkoholkrank oder geisteskrank sein. Sind diese nicht gegeben, müssen sie eben herbeigeführt werden. Daher zielt die gesamte Erziehung des Kronprinzen darauf ab, seinen Willen zu brechen - auch um den Preis seiner geistigen Gesundheit. So wird Christian VII. als Kind sowohl körperlich als auch seelisch misshandelt, gedemütigt und erniedrigt, bis er sämtlichen Halt in der Welt verloren hat.
Diese Begebenheiten werden größtenteils in einer sachlichen Sprache, ähnlich einer Berichterstattung, erzählt. Das mildert die Eindringlichkeit jedoch keineswegs - ganz im Gegenteil! Allerdings braucht der Leser auch teilweise einen langen Atem, denn Enquist neigt trotz nüchternem Sprachstil zu einer ausufernden Erzählweise und zu Wiederholungen, so dass sich nicht nur einmal Längen einstellen.
Der Versuch einer "Revolution von oben"
Natürlich wird auch Struensee gebührend charakterisiert. Der Autor hat sich dafür entschieden, Struensee als einen Mann mit moralischen Grundsätzen darzustellen, der sich scheut, die Macht, die der König ihm übergibt, auch zu nutzen und als er es endlich tut, sie - ganz im Geiste der Aufklärung - möglichst zum Wohle der einfachen Leute einzusetzen. Zwanzig Jahre vor der französischen Revolution, hätten die dort so blutig erkämpften Ideale und Freiheiten in Dänemark friedlich, per Erlass eines "Schreibtischrevolutionärs", wahr werden können. Doch die bisherigen Machthaber haben nicht vor, sich ihre bis dato ausgeübte Regierungsgewalt dauerhaft verwehren zu lassen, vor allem, da Struensees Dekrete ihnen auch Einbußen finanzieller Natur bescheren. Zum einen nutzen sie die eben eingeführte Pressefreiheit aus, in dem sie verleumderische Pamphlete verteilen, die von der Bevölkerung überwiegend geglaubt werden, zum anderen wird Struensee seine Liaison mit der Königin zum Verhängnis.
Caroline Mathilde ist eine englische Prinzessin, die noch fast als Kind mit Christian VII. verheiratet wurde. Die Ehe besteht quasi nur auf dem Papier, auch wenn sie ihrem Mann einen Sohn gebiert. Doch Christians geistiger Zustand lässt eine stabile Partnerschaft nicht zu - welche auch nicht wirklich erwünscht gewesen wäre. Eigentlich ist die Königin nur dazu da, den Thronerben zu gebären und damit das Fortbestehen des Königshauses zu sichern. Das wird in einigen Bemerkungen, die die Königinwitwe, die Stiefmutter Christians, und einige andere herrschende Beamten von sich geben, klar. Dort ist die Rede von Zuchtsau und decken im Zusammenhang mit der jungen Königin. Zwar darf zu recht angezweifelt werden, dass die Königinwitwe tatsächlich solche vulgären Wörter in den Mund genommen hätte, doch Enquist verdeutlich so seinen Leser ganz klar, wie die Stellung Caroline Mathildes war und wie vorherrschende Meinung über sie.
Eine unerhörte und gefährliche Liebe
Die Liebesgeschichte zwischen der Königin und Struensee ist Thema des zweiten Teils (neben der sich zuspitzenden politischen Situation und Christians Geschichte). Enquist spart auch die intimen Szenen nicht aus. Ob das aus dem Buch einen "ungemein frivolen erotischen Roman" macht, wie der Fokus dazu schreibt, muss wohl jeder Leser für sich entscheiden. Zumindest gibt es dem Ganzen Würze und die Sprache gleitet zum Glück nur selten ins schwülstige und nie ins voyeuristisch-pornographische ab.
Schön herausgearbeitet ist die Beziehung der beiden zueinander und das sich langsam verändernde Machtgefüge in dieser. Allerdings wird versäumt zu erklären, warum die beiden ihre Liebschaft so offen lebten und somit den Hof und die Bevölkerung fast schon leichtsinnig gegen sich aufbrachten.
Mit Der Besuch des Leibarztes hat Enquist sich einem Thema abseits des Mainstreams gewidmet und legt einen komplexen und vielschichtigen Roman vor, der weit über die im Klappentext fokussierte Dreiecksbeziehung hinausgeht. Vielmehr gibt er seinen Leser einen detaillierten Einblick in ein Land, dessen Regierung und Königshaus, das sonst wohl nur wenigen bekannt sein dürfte. Allerdings ist aufgrund der ausufernden und wiederholenden Beschreibungen an einigen Stellen ein langer Atem vonnöten, aber der lohnt sich definitiv.
Per Olov Enquist, Hanser
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