Das Nordseekind
- Aufbau
- Erschienen: April 2023
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Sagenumwobene Mordfälle erschüttern die Nordseehalbinsel Eiderstedt
An einem Frühjahrsmorgen im Jahr 1845 begegnet Peter Söt, der Schreiber des jungen Rechtsanwalts Theodor Storm, bei seinem Gang durch das beschaulich ruhige Husum in die Kanzlei einem sich lautstark streitenden Paar. Als die Frau ihn anspricht und nach dem Weg zum Büro seines Arbeitgebers fragt, fordert er die beiden wenig erfreut auf, ihn zu begleiten. In Storms Kontor angekommen, unterbreitet die, scheinbar aus einfachen Verhältnissen stammende, Besucherin Enna Lorenzen ungeduldig und selbstbewusst ihr Anliegen. Mit Hilfe des Advokaten möchte sie an ein ihr zustehendes Erbe von über 90 Höfen gelangen.
Ein Findelkind mit Erbanspruch
Die Geschichte, die Enna erzählt, klingt jedoch nicht sehr überzeugend. Sie reicht Jahrzehnte in die Vergangenheit zurück, als die sehr wohlhabende Familie von Ovens aus Eiderstedt von einem schrecklichen Verbrechen getroffen wurde, bei dem eine Tochter spurlos verschwand. Die damals dreijährige Elisabeth von Ovens soll nun Enna gewesen sein, die eines Tages in einem Körbchen vor einer Schuhmacherwerkstatt in Itzehoe gefunden worden war. Beigefügt die Bitte, das Kind gegen entsprechende Entlohnung großzuziehen. So wuchs das kleine Mädchen nichtsahnend bei dem Schuhmacher und seiner Frau auf, bis die Pflegemutter auf dem Sterbebett der mittlerweile erwachsenen Ziehtochter ihre eigentliche Herkunft offenbarte. Ennas Begleiter nach Husum, Hinrich, hatte daraufhin die näheren Zusammenhänge herausgefunden. Als Beweis für die angebliche Verwandtschaft mit der Familie von Ovens zeigt Enna ihren Zuhörern ein silbernes Medaillon mit dem Relief einer Kriegerin, auf dessen Rückseite die Initialen E.v.O. eingraviert sind. Storm und Söt schenken ihrem Bericht jedoch wenig Glauben, einzig Storms ebenfalls anwesende Verlobte Constanze setzt sich für sie ein.
Die Entscheidung zur Übernahme des Falls wird Theodor durch die weiteren Ereignisse des Tages jedoch abgenommen. Clausen, der langjährige Bedienstete seines Vaters Johan Casimir Storm, renommierter Anwalt und führende Persönlichkeit der Bürgerschaft Husums, stirbt völlig unerwartet. Als sein Tod sich als Mord herausstellt, werden Storm und seinem Schreiber, die schon früher erfolgreich ähnliche Geschehnisse klären konnten, die Ermittlungen übertragen. Dabei kommt überraschend ein Zusammenhang zwischen Clausens Ermordung und Enna, der vermeintlichen Millionenerbin, zu Tage. Nicht nur, dass Peter bemerkt hatte, wie der Getötete mit Entsetzen ihren morgendlichen Streit verfolgte, bei der Durchsuchung von Clausens Kammer findet sich zudem ein Anhänger mit dem gleichen Motiv, das auch Ennas Schmuck trägt.
Rechtsanwalt und Schreiber fahnden als eingespieltes Team
Enna kann allerdings dazu nicht mehr befragt werden, denn wie auch Hinrich hat sie ihr Gasthaus verlassen und bleibt aufs weitere unauffindbar. Aus einer unbequemen Erbschaftsangelegenheit entwickelt sich für das Ermittlerduo Storm und Söt nun in Folge ein düsteres Mordgeschehen. Bei ihrem Besuch beim Familienoberhaupt, der alten Katharina von Ovens in Friedrichstadt will diese von einer zurückgekehrten Elisabeth nichts hören. Für sie existiert als Enkelin nur Anna Lena, ein zurückhaltendes junges Mädchen, das bei ihr lebt. Trotzdem kann sie wichtige Informationen beitragen, indem sie die wahre Begebenheit, die hinter dem Anhängermotiv steht, erzählt. Vor allem, als es zu weiteren Toten kommt, bleibt sie auch verdächtig, denn es finden sich Indizien, die Hinweise auf eine mögliche Erpressung der Familie Ovens geben.
Die Suche nach den Hintergründen der Mordserie und der Versuch, den oder die Verantwortlichen aufzuspüren, erstrecken sich schon bald über Husum hinaus, entlang der Eider, weit in die Küstenregion hinein. Nur schleppend kristallisiert sich für Rechtsanwalt und Schreiber bei ihren Ermittlungen auf den alten Bauernhöfen der Halbinsel, den charakteristischen Haubargen, durch die Befragungen, der nicht zwangsläufig kooperierenden Bewohner sowie aus Erzählungen staatlicher und kirchlicher Obrigkeit, ein Scenario der Ereignisse heraus. Fast scheint es, als ob für die Auflösung der Morde eine Rückkehr in die nähere Vergangenheit bei weitem nicht ausreicht. Doch wie kann es sein, dass das Wirken eines vor Jahrhunderten geschlossenen Bündnis, die heutige Gegenwart in solchen Ausmaßen bestimmt...
Nordseekulisse liefert Bühne für hintergründiges „Kriminalstück“
Tilman Spreckelsen schickt sein ungewöhnliches Ermittlergespann mit „Das Nordseekind“ in dessen fünftem Fall erneut rundum Theodor Storms Geburtsort, Husum, auf Verbrecherjagd. Ausgehend von einer Familientragödie nimmt eine persönlichem Leid aber auch nackter Habgier geschuldete spannend-bedrohliche Handlung ihren Lauf, die in einer schwer durchschaubaren Mordserie gipfelt. Der solide Plot überzeugt nicht wenig durch die authentischen stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen, die Klima, Vegetation und Bauten der Gegend hinter den Deichen greifbar machen. Dazu summiert sich die dichte Ausarbeitung der Charaktere. In seinem Nachwort verweist Autor Spreckelsen auf reale Vorbilder unter seinen Personen, die in seinem Roman wieder lebendig werden. Allen voran natürlich Theodor Storm, der als junger Rechtsanwalt wirklich in Husum praktizierte sowie der Schreiber Peter Söt.
Aus dessen Sicht wird die Geschichte erzählt, so dass Storms Agieren als Hauptperson zwar im Mittelpunkt steht, aber auch Raum für weitere Erzählstränge bleibt. Mit seinen unkonventionellen Methoden muss der junge Storm sich mit seiner eigenen neugegründeten Kanzlei im betulichen Husum erst noch etablieren. Dabei spielt das vertraute, aber komplizierte Verhältnis zu seinem Vater, die Abgrenzung zum hochangesehenen Stadtadvokaten Storm Senior, fraglos, eine Rolle. Auch Söt wird als Zugezogenem skeptisch begegnet. Die Verbindung zwischen Storm und ihm geht dagegen weit über berufliche Belange hinaus. Die gemeinsam durchlebten Ereignisse vorheriger Fälle schweißen die beiden eng zusammen. Darüber hinaus dankt Peter Söt dem Anwalt für das, trotz seiner eigenen kriminellen Vergangenheit junger Jahre, entgegengebrachte Vertrauen mit bedingungsloser Loyalität. Diese innere Verpflichtung bringt den frischgebackenen Vater und Ehemann jedoch in den stetigen belastenden Zwiespalt, seine eigene Familie zu vernachlässigen. Auffallend bei Spreckelsens Personentableau ist die Positionierung vieler starken Frauen, die neben der zeitgemäßen klassischen Besetzung öffentlicher Ämter durch Männer, den Handlungsverlauf entscheidend und unerwartet mitbestimmen.
Der Dichter Theodor Storm bleibt weitgehend im Hintergrund. Für die Abschriften seiner eigenen Texte nimmt er auch nicht die Dienste seines Schreibers in Anspruch. Über sein Engagement für das Sammeln von Sagen und Märchen, fließt der Literat Storm aber indirekt in Spreckelsen Kriminalroman mit ein. Er verwendet Inhalte der zusammengetragenen Geschichten des Autors. Zudem stellt er jedem Kapitel seines Buchs ein Zitat aus einem Werk Storms voran.
Fazit
Tilman Sprekelsen gelingt mit „Das Nordseekind“ ein gut recherchierter und pointiert erzählter Krimi. Ein historischer Roman, der alles richtig macht: ein spannend hintergründiger Plot, geschichtsträchtige Schauplätze und realen Zeitgenossen folgende Charaktere. Mit dem Protagonisten Theodor Storm als Ermittler garantiert mit besonderem Reiz für Storm-Freunde sowie beste Reiselektüre bei einem Besuch von Husum und Umgebung.
Tilman Spreckelsen, Aufbau
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