Das Vogelmädchen von London
- Rütten und Loening
- Erschienen: Oktober 2023
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Die Götter sind Vögel, und die Vögel sind Götter.
London im Jahr 1601. Shay ist ein junges Mädchen, das über den Dächern der Stadt lebt. Sie hat eine Gabe, mit Vögeln zu kommunizieren, ist Falknerin, Botenmädchen und Wahrsagerin. Wenn sie ein bestimmtes Lied singt, ist sie wie in Trance und wacht erst viel später auf und weiß nicht, was geschehen ist. Bei einem ihrer Botengänge über den Dächern lernt sie Nonesuch kennen, der Star des Blackfriars Theatre ist und der Shay in die Welt des Theaters einführt.
Schon bald macht das Theater durch Shays Fähigkeiten auf sich aufmerksam, zudem besucht Shay regelmäßig ihre Vögel über den Dächern. Als sie einen Schwarm gefangener Vögel freilässt, ist nicht nur der Adel hinter ihr her, sondern auch andere Mächte, Shays Fähigkeiten wecken Begehrlichkeiten. Sogar die Königin, Elizabeth I., lädt sie zu sich ein.
Shay und Nonesuch sind die Zwänge des Blackfriars Theater leid und gründen ihr eigenes Theater, das Ghost Theatre, das keine feste Spielstätte hat, sondern an verschiedenen Orten auftritt. Sie wird zur Attraktion Nummer eins und schließlich gelangt sie zum sagenumwobenen Cockaigne, einem wandernden Schlaraffenland, das ihr Schicksal entscheiden wird.
Sprachlich nicht einfach
Es ist ein sprachlich gewaltiges Werk, das der englische Schriftsteller und Musiker Mat Osman mit seinem Roman „Das Vogelmädchen von London“ vorgelegt hat. Mag es durch das ansprechende Cover, die große Schrift und zwei Kindern als Protagonisten zunächst als Jugendroman anmuten, wird beim Lesen doch schnell klar, dass dem nicht so ist. Osman entführt die Leserschaft in ein schmutziges London, von dem der Leser schnell die Gassen und Hinterhöfe, Dächer und Absteigen kennenlernt, mit den entsprechenden Personen und ihren Verhaltensweisen. Hier läuft nichts in geraden Bahnen, und die Theater des Volkes tun ihr Übriges dazu.
Die Hauptfigur des Romans ist Shay, ein selbstbewusstes, aufgewecktes Mädchen, deren Mutter bereits verstorben ist und deren Vater mit seinem kleinen Kahn fremde Personen von einem Ufer der Themse zum anderen rudert. Shay ist Aviscultarierin und hat diese Gabe, dass sie Vögel verehrt und mit ihnen reden kann, von ihrer Mutter geerbt. „Die Götter sind Vögel, und die Vögel sind Götter“ heißt es des Öfteren im Roman. Als Junge verkleidet, verdient sie sich ihr Geld durch Botengänge und legt ihre Strecken meist über den Dächern von London zurück.
Die dunkle Welt des Theaters
Nonesuch ist der männliche Protagonist des Buches und Chef und Star des Blackfriars Theatres, wo er mit anderen Jugendlichen zusammen Stücke aufführt. Schnell fasst Shay Fuß im Theater, zunächst als Assistentin der Souffleuse Alouette, mit der sie sich anfreundet, schon bald aber auf der Bühne, und hier beginnt sie ihre Karriere. Wenn sie ein bestimmtes Lied singt, gerät sie in Trance und vergisst alles um sich herum, scheint währenddessen aber mysteriöse Weissagungen zu machen. Natürlich wird dies von den Theatermachern ausgenutzt und spricht sich in den Niederungen schnell herum.
Mat Osman schafft es, seine Leser in ein besonderes London zu entführen. Es ist die Zeit von Shakespeare und Königin Elizabeth I., die auch selbst im Roman vorkommt und Shays Fähigkeiten für sich nutzen will. Doch ist auch dieser Auftritt kein strahlender, vielmehr ist die ganze Stimmung des Romans eher düster und mysteriös, verrucht und oft hektisch. Es gibt wenige Momente, in denen der Autor seine Leser innehalten lässt, und wenn, dann haben die Charaktere immer Gefahr im Nacken oder nur eine kurze Verschnaufpause.
Die Darstellung Londons in dieser Zeit ist recht beeindruckend, doch verlässt die Erzählung nie die Niederungen der Gesellschaft, und wenn, dann sind die oberen Zehntausend eigentlich noch schlimmer als die ärmere Schicht. Hier wird nichts beschönigt, es wird gehungert, geraubt, gestohlen, gemordet, die Pest geht um und es ist nicht immer klar, wer hier wem untersteht und wer wen in der Hand hat. Dies ist auch des Öfteren für den Leser sowohl überraschend als auch verwirrend.
Verwirrende Gedankensprünge
Osmans Sprache ist sehr virtuos und fordert dem Leser einiges an Konzentration ab. Er schlägt einige Haken, sowohl vom Erzähltempo her, als auch von der Handlung und in London selbst, und hier kann man schon einmal durcheinander kommen, wo man gerade ist und was gerade mit Shay und Nonesuch geschieht.
So ist „Das Vogelmädchen von London“ ein Roman, der die Gesellschaft der Zeit spiegelt und sich vor allem auf die untere Schicht konzentriert, der sich aber gelegentlich in sich selbst verliert und durch Sprünge in Handlung und Gedankengängen nicht immer eine stringente Linie verfolgt. Temporeichen Phasen folgen Szenen, in denen die Handlung auf der Stelle tritt und fast durch lange Dialoge zerredet wird. Das ist schade, denn so leidet die Spannung, obwohl man lange nicht weiß, wo die Handlung eigentlich hinführen will.
Fazit
„Das Vogelmädchen von London“ aus dem Rütten & Loening Verlag ist ein fast 500 Seiten starkes Hardcover mit Neugier erzeugendem Cover, das ein zwiespältiges London 1601 zeigt und historisch eine hervorragende Studie der unteren Gesellschaft ist. Leider ist die Handlung sehr sprunghaft und ist keine Geschichte, die sich einfach weg lesen lässt. Sie erfordert Konzentration und ist nichts für jeden London-Fan. Keine leichte Lektüre, aber streckenweise sehr beeindruckend.
Mat Osman, Rütten und Loening
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