All die gestohlenen Erinnerungen
- Piper
- Erschienen: August 2024
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Unfassbares Leid und viel Menschlichkeit aus einem besonderen Blickwinkel betrachtet.
Für Irène Martin ist die Arbeit in den Arolsen Archives, ehemals International Tracing Service (ITS), viel mehr als nur der tägliche Gang zur Arbeit. Damals, im Jahr 1990, sah sie zufällig die Stellenanzeige und bewarb sich. Nie hätte sie gedacht, dass sich daraus eine Leidenschaft entwickeln würde.
Arbeit und Privatleben sind kaum zu trennen
In den Archiven des ehemaligen ITS im hessischen Bad Arolsen lagern tausende Dokumente und Gegenstände von Opfern des Nationalsozialismus. Irène Martin ist hier nicht nur Archivarin, sondern auch Ermittlerin. Von ihrer Vorgesetzten erhält sie den Auftrag, drei Objekte an die rechtmässigen Eigentümer oder deren Nachkommen zurückzugeben. Die Suche nach den Angehörigen erweist sich in den meisten Fällen als Herkulesaufgabe. Aufwändige Recherchen sind stets mit dem Gedanken und der Hoffnung verbunden, den Familien Auskunft über den Verbleib ihrer Verwandten zu geben. Im besten Fall findet ein Gegenstand den Weg zurück und wird zu einem wichtigen Erinnerungsstück. Es ist eine belastende Arbeit, die oft Irènes Privatleben bestimmt.
Im Moment beschäftigt sie die Herkunft eines Medaillons, eines bestickten Taschentuchs und eines Stoffpierrots. Es dauert nicht lange, und der Auftrag ihrer Vorgesetzten nimmt sie voll in Beschlag. Irènes Nachforschungen finden nicht nur in Archiven statt, sondern führen sie nach Warschau, nach Lublin und auch in ihre Heimatstadt Paris. Schritt für Schritt setzt sie die einzelnen Informationen zusammen. Dabei kann sie auch auf Hilfe aus den eigenen Reihen zählen. Die Spurensuche fördert erschütternde Fakten und unvorstellbares Leid zutage. Aber Irène entdeckt auch viele Spuren von Menschlichkeit, Wärme und Solidarität.
Belastende Spurensuche
Die Archivarin Irène Martin verkörpert perfekt die engagierte Mitarbeiterin der Arolsen Archives. An ihrer Arbeit werden die grundsätzlichen Schwierigkeiten der Spurensuche, aber auch die emotionalen Belastungen der Archivmitarbeiter deutlich. Irène taucht ein in eine Zeit des Schreckens, der Qual und des unermesslichen Leids. Aber sie gibt den Hinterbliebenen mit dem Ergebnis ihrer Recherchen eine Verbindung, eine Möglichkeit ihre Angehörigen wieder in ihre Mitte zu holen. Manchmal leider auch mit der Geschichte ihres Verbleibs oder ihres Verschwindens.
Gaëlle Nohant hat um das reale Geschehen mit Hilfe von fiktiven Figuren eine äusserst faszinierende und ergreifende Geschichte geschrieben. Alle Kapitel, die den Namen einer beteiligten Person tragen, sind miteinander verbunden. Jede Person findet sich auf die eine oder andere Weise in den folgenden Kapiteln wieder, so dass eine eindrucksvolle und ergreifende Geschichte entsteht. Manchmal mit überraschenden Verknüpfungen und Wendungen. Und immer sind Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben.
« Dieser Ort sei in weiser Voraussicht von den Alliierten erschaffen worden. Sie hätten vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs verstanden, dass der Weg zum Frieden nicht nur von den mehreren Dutzend Millionen Toter, sondern auch von den vielen Millionen Vertriebener und Verschwundener gepflastert sein würde. Diese müssten nach dem letzten Schuss gefunden und bei der Heimkehr unterstützt werden. Genau wie auch das Schicksal all derer geklärt werden müsse, die nicht gefunden werden konnten. «
Die Arolsen Archives in Hessen gibt es wirklich. Mehr als 30 Millionen Dokumente lagern dort. Immer noch wird nach dem Verbleib von NS-Opfern gesucht. Gegenstände suchen ihre Besitzer. Noch immer gehen täglich Hunderte von Anfragen ein. Inzwischen ist es ein Wettlauf mit der Zeit, denn es gibt immer weniger Zeitzeugen.
Oft dauert es Jahre, bis die unzähligen Informationen zusammengetragen sind und mit etwas Glück zum Ziel führen. Nicht immer geht es gut aus, wenn die Menschen zusammenkommen, Gegenstände übergeben oder die Geschichte eines Opfers bekannt wird. Manchen Menschen fällt es schwer, die Vergangenheit zu akzeptieren, sich mit den Tatsachen abzufinden. Auch diesen Aspekten gibt die Autorin in ihrem Roman Raum.
Neben der überzeugenden Darstellung der Nachforschungsarbeiten der Arolsen Archives äussert sich die Autorin in ihrem Roman auch zu politischen Themen. So nimmt sie die Tatsache, dass viele ehemalige SS und Gestapo-Leute damals eine Stelle im Archiv besetzten zum Anlass, dies in ihrem Roman zu verarbeiten. Als Grundlage dient ihr ein Brief des ehemaligen Interimsdirektors des ITS an seinen amerikanischen Vorgesetzten. Ihm erklärt er, weshalb es gefährlich wäre, das Archiv den Deutschen zu übergeben. Nur zu gerne hätte man damals die Archive geschlossen, die Dokumente vernichtet. Besonders interessant ist, dass erst unter Angela Merkel die Arolsen Archives für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
Fazit
Ein bemerkenswerter Roman, der durch seine ungewöhnliche Sichtweise begeistert. Gaëlle Nohant klärt auf, ohne die Realität zu leugnen oder gar zu beschönigen. Es ist ein anderer Blick auf den Nationalsozialismus und zeugt von einer gründlichen Recherche. Eine besondere und beeindruckende Lektüre, der das bisschen Romantik nur guttut.
Gaëlle Nohant, Piper
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