Der Drahtzieher
- Diogenes
- Erschienen: August 2024
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Brodelnde Emotionen und kaltes Kalkül: Sarah Pines Drahtzieher entführt die Lesenden in die wilden 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Die 1920er-Jahre, eine leidenschaftliche Liaison zwischen einem Fabrikanten aus dem Sauerland und seiner in Afrika lebenden Cousine und der Kap-Kairo-Plan, der Afrika von Norden nach Süden mit einem Eisenbahnnetz verbinden sollte, bilden das Settings dieses groß angelegten, historischen Beziehungs- und Untergangsromans.
Pläne, Patriarchat, Provinz
Theodor, ein Mann mit großen Ambitionen und cholerischen Anfällen giert nach ökonomischem Erfolg und gesellschaftlicher Reputation. Sarah Pines benutzt den sogenannten Kap-Kairo-Plan zwar als historische Grundlage und Startpunkt ihres Romans, schildert kolonialistische Überheblichkeit und Fortschrittsglauben, die jeweils ins Leere laufen. Bald tritt dieser Aspekt des Romans aber in den Hintergrund. Denn es keimt – wie eine unabwendbare Krankheit – Begehren auf im Protagonisten Theodor. Er nimmt das Objekt der Begierde, seine Cousine Alba, kurzerhand mit ins Sauerland – und das Unheil seinen Lauf. Denn dort bandelt diese nicht nur mit Theodors Jugendfreund und wirtschaftlichen Konkurrenten Albert an, sondern auch Theodor mit Alberts Frau Marthe.
Der Großindustrielle wird zwischen Allmachtsfantasie und Verzweiflung, Besitzansprüchen und Eifersucht gezeigt. Theodors Liebe ist getrieben vom Willen, besitzen zu wollen oder, sofern dies nicht möglich ist, zumindest zu zerstören. Die Personenbeziehungen changieren zwischen Abhängigkeit und Freiheitsdrang, die Begierde zeigt sich dabei von ihrer dunklen Seite, wird zum animalischen Akt der Unterwerfung. In wechselnden Konstellationen wird diniert, provoziert und betrogen. Leider nutzt sich diese Konstellation in ihrer Wiederholung und den geringfügig abgeänderten Spielarten schnell ab. Die Figuren spielen Theater, geben Soirées. Theodor, irgendwo zwischen fortschrittsgläubigem Homo Faber und provinziellem Gatsby, wütet in lächerlicher Selbstgefälligkeit und Posse – und entpuppt sich so immer mehr als aus der Zeit gefallenes Auslaufmodell des Patriarchen. Er, der Drahtzieher, der so gerne auch die Strippen ziehen würde, bleibt eine Karikatur. Und auch Alba, eine drogeninduzierte Version von Emma Bovary, bleibt in der Figurenzeichnung seltsam zweidimensional. Dies verwundert umso mehr, da der Roman in einer allwissenden Erzählhaltung geschrieben ist, die Einblicke in das Seelenleben der Figuren gibt. Eine psychologische Tiefe der Figuren entsteht trotzdem nur stellenweise.
Ein sprachgewaltiges Stillleben
Sarah Pines große Stärke sind die Dialoge und die Verwendung des sauerländischen Dialekts. Sie seziert die Lächerlichkeit der kleingeistigen Ambitionen genüsslich und gibt in überbordender Sprache authentische Einblicke in eine vermeintlich analytische Gedankenwelt. Außerdem schildert sie gekonnt das krankhafte Festhalten an einem Klassenbewusstsein in einer Zeit, in der diese scheinbar unumstößliche Ordnung des gesellschaftlichen Lebens immer mehr ins Wanken gerät und schlussendlich zerbricht. Diese weiteren Entwicklungen deutet die Autorin im Erzählfluss immer wieder vorausgreifend an und spielt dadurch kunstvoll mit dem Genre des historischen Romans.
Fazit
Der Drahtzieher bleibt als Roman aber leider blutleer, ein sprachgewaltiges Gerippe, ein bildungsbürgerlicher Fiebertraum ohne wirkliche Handlung – und nichtsdestotrotz ein beeindruckendes Debüt der in New York lebenden Autorin.
Sarah Pines, Diogenes
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