Hundert Wörter für Schnee
- Zsolnay
- Erschienen: Februar 2025
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Ein Mensch entschuldigt sich, wenn er jemandem auf die Füße tritt. Manche aber schauen nur und sagen Oha. So einer war Robert Edwin Peary, der einem ganzen Volk auf die Füße gestiegen ist.
Mit diesen Sätzen beginnt der österreichische Autor Franzobel seinen neuen Roman Hundert Wörter für Schnee, in dem er vom Wettlauf um den Nordpol im ausgehenden 19. Jahrhundert erzählt – und davon, was eine Zivilisation eigentlich ausmacht.
Ein filigraner Eisberg mit emotionalem Tiefgang
Auf einer Expedition nach Nord-Grönland kommen sie erstmals zusammen: Robert Peary, der ehrgeizige Expeditionsleiter, besessen von der Idee, als erster Mensch den Nordpol zu erreichen und sein Schiffsarzt Frederick Cook, der unvoreingenommene, faszinierte Beobachter voller Fantasie und Humor. Im Laufe der Jahre werden die beiden von Kollegen zu Rivalen. Im Streben nach einem Platz in den Geschichtsbüchern zeigt sich besonders Peary dabei rücksichtslos und egozentrisch.
Besessen vom Nordpol unternehmen beide mehrere Jahrzehnte lang immer wieder Expeditionen ins Nordpolarmeer, gefallen sich in selbstherrlichen Entdecker-Posen und treten durchaus kolonial auf. So bringt Peary beispielsweise sechs Inughuit von einer Expedition nach Amerika mit. Sie sollen dort als Attraktion dienen – das Interesse der naturhistorischen Museen ist groß und diese zahlen gutes Geld. Als wäre diese Entrechtung nicht genug, werden vier der sechs Inughuit von einer Krankheit dahingerafft. Nur zwei überleben, von denen einer in Amerika bleibt: ein Junge namens Minik. Er wird zum Wanderer zwischen den Kulturen in dessen Zwischenraum er verloren geht.
Franzobel dreht hierbei die Perspektive um, schildert die westliche Gesellschaft mitunter aus Sicht des Inughuit und durchbricht dadurch die kolonialen Wahrnehmungsmuster von normal und exotisch. Von der entrechteten und passiven Ausstellungsattraktion verhilft der Autor seiner Romanfigur zu einer eigenen, selbstbestimmten Stimme und schildert ein bedrückendes Schicksal, das nur durch den fein in die Erzählung verwobenen Humor einen grotesken Trost bietet.
Nordpol, Neid und Niedertracht
Aber wie genau ging das mit dem Nordpol denn aus? So genau weiß es keiner. Erreichte Cook tatsächlich als erster Mensch den Nordpol? Wurde er das Opfer einer von Peary initiierten Medienkampagne oder tischte er wirklich eine Lügengeschichte auf? Und welche Anerkennung steht eben diesem Peary zu?
Sprachlich virtuos verflicht Franzobel die Erzählstränge und Zeitebenen zu einer großen Geschichte, die auch eine Allegorie auf unsere Gegenwart ist. Dafür hat er einiges an Recherche betrieben: historische Dokumente gesichtet, die Handlungsorte seines Romans bereist, mit Hilfe einer Ethnologin die Lebensweise und Mythologie der Nordgrönländer erforscht.
Hundert Wörter für Schnee strotzt vor Sprachwitz und besticht mit einer plausiblen Figurenzeichnung, die komplexe Charaktere schafft und dabei ohne schwarz-weiß Zeichnung auskommt. Erfrischend sind besonders die Frauenfiguren des Romans – allen voran Josephine Peary, die Frau von Robert Peary, die im Spannungsfeld von ihrer Naturfaszination und dem viktorianischen Gesellschaftskorsett steht.
Fazit
Franzobel versucht sich an nichts Geringerem als der literarischen Inszenierung eines kulturellen Gedächtnisses der Inughuit. Er schildert ihre Mythen, erzählt von ihrer poetischen Sprache und der Resilienz gegen eine erbarmungslose Natur. Hundert Wörter für Schnee berichtet aber auch von der Geschichte einer systematischen Benachteiligung, die bis in Gegenwart reicht. Neben aller sprachlichen Eleganz ist dies ist vielleicht der größte Verdienst des Autors.

Franzobel, Zsolnay
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