Der Schatten des Kaisers
- Lübbe
- Erschienen: Januar 2004
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- Lübbe, 2004, Titel: 'Der Schatten des Kaisers', Originalausgabe
Das Porträt eines leidenschaftlichen Arztes, der (Kriegs-)Medizingeschichte schrieb
Napoleon Bonaparte dürfte vermutlich fast jedem ein Begriff sein. Der gebürtige Korse machte in den Wirren der Französischen Revolution eine glänzende Karriere in der Armee und in der Politik. 1804 wird er schließlich zum Kaiser der Franzosen gekrönt und überzieht Europa in seinem Machtstreben mit einer Reihe blutiger Kriege. Am Ende wird der zweimal verbannt und stirbt auch in der Verbannung. Diese Fakten kennen wohl die Meisten. Doch deutlich weniger Leser wissen vermutlich von dem Mann, der in fast allen Schlachten an Napoleons Seite war und jedes Mal einen erbitterten Kampf führte - allerdings nicht als Soldat, sondern als Chirurg: Jean-Dominique Larrey, unter anderem Chefchirurg der Orientarmee und der Großen Armee.
Geboren in einfachen Verhältnissen in den Pyrenäen, studiert er zunächst in Toulouse bei seinem Onkel Medizin und schließt das Studium dann in Paris ab. Dort begibt er sich kurzzeitig auf einen eher zwielichtigen Pfad der Medizin, um seine kargen finanziellen Verhältnisse aufzubessern: Er nimmt Abtreibungen an schwangeren, meist unverheirateten Frauen vor. Eine Tätigkeit, die ihn Zeit seines Lebens belasten soll und zur Triebfeder für seinen verzweifelten Kampf um die Leben der Soldaten wird. Schließlich beginnt seine Karriere in der Armee und diese führt ihn an der Seite Napoleons um die halbe Welt.
Ungewöhnlicher Erzählstil
Johannes K. Soyener schreibt aus verschiedenen Perspektiven. Das Buch beginnt im Jahre 1840, also lange nach dem Kaiserreich, als Napoleons Leichnam feierlich von St. Helena nach Paris überführt wird. An diesen Feierlichkeiten nimmt Jean-Dominique Larrey als alter Mann teil und lässt dabei seine Gedanken immer wieder in die Vergangenheit schweifen. In regelmäßigen Abständen, meist am Anfang eines neuen Abschnittes, werden Auszüge von der Überführung und Larreys Gedanken dazu beschrieben.
Der größte Teil der Gesichte wird entweder in Ich-Form aus Sicht Larreys geschildert oder in der dritten Person über Larrey. Anfangs mag das oft verwirren, denn der Leser muss sich immer umstellen, doch es sind sehr gelungene Wechsel. Durch die direkten Erinnerungen Larreys, die er dem Leser quasi erzählt, erfährt man viel über seine Gedanken und Gefühle und auch über die Motivation für seinen unerbittlichen Kampf gegen den Tod. Die unpersönlichen, in der dritten Person gehaltenen Abschnitte ermöglichen es dem Autor, dem Leser auch Einblicke in Handlungen und Gedanken von dritten Personen zu geben, von denen Larrey keine Ahnung hatte.
Interessante Einblicke in die Kriegsmedizin
Larrey propagierte zum Einen die 24-Stunden-Regel, das heißt notwendige Amputationen sollten innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Verletzung durchgeführt werden, damit möglichst viele der Soldaten ihre Verwundungen überlebten. Zur Verwirklichung seiner Ideen führte er die „Ambulances volantes", die fliegenden Lazarette, ein. Mit diesen Ambulanzen wurden die verwundeten Soldaten von Beginn der Gefechte an aus der Feuerlinie und in verschiedene, in der Nähe errichtete Lazarette gebracht.
Dringende Eingriffe wurden teilweise auf dem Schlachtfeld durchgeführt. Bisher war es üblich gewesen, dass die Verwundeten erst nach der Entscheidung einer Schlacht eingesammelt wurden, wobei durchaus einmal mehrere Tage vergehen konnten. Somit war eine schwere Verwundung auf dem Schlachtfeld meist gleichbedeutend mit dem Tod, denn Blutverlust, Tetanus und Wundbrand rafften die Soldaten mehrheitlich dahin. Jean-Dominique Larreys Erfindung revolutionierte die Kriegsmedizin und rettete unzähligen Soldaten das Leben. Seine „Ambulances volantes" gelten als Vorläufer des heutigen Roten Kreuzes.
Die medizinischen Eingriffe werden zum Teil sehr detailliert dargestellt, was sicherlich nicht jedermanns Sache ist. Zudem können die verschiedenen Techniken und Begriffe medizinische Laien verwirren. Für medizinisch interessierte beziehungsweise erfahrene Leser hingegen sind diese Szenen sehr interessant und spannend.
Viele Schlachten, wenig Politik
Den Großteil dieses Buches nehmen natürlicherweise die Feldzüge Napoleons ein, auf denen ihn Jean-Dominique Larrey begleitete. Zwischendurch werden auch wichtige Ereignisse, wie zum Beispiel die Französische Revolution oder die Krönung Napoleons, ausführlicher dargestellt. Die meisten Geschehnisse außerhalb der Kriege werden jedoch nur recht knapp erwähnt.
Johannes K. Soyener gibt sich große Mühe, seinen Lesern die Unmenschlichkeit und das Grauen der Feldzüge zu beschreiben und es gelingt ihm auch sehr gut. Einzig seine Bemühungen, jede Schlacht beziehungsweise jeden Kriegszug noch schrecklicher und grauenhafter darzustellen, wirken manchmal leicht bemüht. Als Leser bekommt man den Eindruck, dass mit aller Macht versucht wird, die Schrecken noch drastischer darzustellen als zuvor. Somit werden Schilderungen nach einiger Zeit ermüdend und weniger glaubhaft. Weniger hätte hier manchmal gut getan.
Leider nur mit übersichtlichem Personenverzeichnis
Im Anhang befindet sich eine Zeittafel mit den wichtigsten Ereignissen aus Larreys Leben und der ganzen Welt. Zudem ein ausführlicher Quellennachweis und ein Personenregister. Dieses Register ist allerdings eher verwirrend als hilfreich. Die Gliederung erfolgt nämlich nach Jahren und Orten, unter denen die dort das erste Mal vorkommenden Personen aufgeführt werden. Somit ist die Suche nach einem Namen mühsam, wenn man nicht mehr weiß, wo derjenige aufgetreten ist. Da eine Vielzahl von Personen vorkommt, die oft in größeren Abständen in Erscheinung treten, wünscht man sich immer wieder ein übersichtlicheres Personenverzeichnis.
Doch diese kleinen Kritikpunkte schmälern das Lesevergnügen nur unwesentlich. Johannes K. Soyener ist es gelungen, einem wichtigen Mann der Medizingeschichte ein Denkmal zu setzen. Sehr empfindliche Leser, was Blut und Gewalt angeht, sowie medizinisch Uninteressierte dürften wenig Gefallen an diesem Buch finden. Allen anderen jedoch kann „Der Schatten des Kaisers" nur empfohlen werden.
Johannes K. Soyener, Lübbe
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